Die Schwester einer Freundin sieht ihre Kinder heranwachsen und denkt nach: zuerst ist da dieser winzig kleine Körper. In ihm steckt ein Mensch, der sich oft ärgert, weil einiges noch nicht klappen will.
Der winzige Körper hat Vorlieben, die sich im Wesentlichen um Nahrung und Zuneigung drehen. Nach absehbarer Zeit weicht er einem größeren Körper. Streng genommen ist der ganz kleine Mensch, mit dem alles angefangen hat, jetzt nicht mehr da. Er ist verschwunden, nicht spurlos, aber unwiederbringlich.
Der etwas größere Körper hat Vorlieben, die sich im Wesentlichen um Nahrung und Zuneigung drehen. Dieser neue Körper weicht einem noch größeren und eines Tages einem ganz großen.
Weiß der ganz große noch wie es sich angefühlt hat, Kiesel in der Sandale zu haben, ein Eis abzustauben, auf dem Laufrad die Kurve zu kratzen? Der Mensch in dem Riesenkörper betrachtet sich selbst auf Fotos, in stetig wechselndem Gehäuse, vor verblassender Kulisse. Zuverlässig führt die Veränderung Neues mit sich, Wehmut spürt er kaum, eher Verwunderung:
Er weiß dass das, was er sieht, Ausgaben seiner selbst sind. An manches erinnert er sich: Gesichter blitzen in der Erinnerung auf, Wanduhren, eingelegte Kirschen, das Armband mit dem blauen Elefanten von Papa, Ausflüge an den See. Aber die ganzen kleineren Ichs, sie sind weg: jeweils mit einem ganzen gewaltigen Kosmos der Dinge, wie sie einmal waren und nie wieder sein werden. Ganz am Ende, wenn inzwischen nichts schief gelaufen ist, ist da dieser sehr, sehr alte Körper.
In ihm steckt ein Mensch, der sich oft ärgert, weil einiges nicht mehr klappen will.
Zu Wissen, dass in puncto Körper-Version so ziemlich das Ende der Fahnenstange erreicht ist, kommt ihm gar nicht mal so ungelegen. Seine Vorlieben drehen sich immer noch um Nahrung und Zuneigung, aber von beidem ist er allmählich satt und bereit, Teller und Hand höflich zurück zu schieben. So bleibt der Körper eines Tages nach einem Schlaf einfach liegen. Oft passiert das im Frühling, genau dann, wenn aus farblosen Grasbüscheln unverhofft neues Grün sprießt.
Die Schwester einer Freundin denkt, dass nichts Schweres und Trauriges daran sein kann, wenn ein langes, randvolles Leben zu Ende geht. Es geschieht nicht urplötzlich, nicht dann, wenn der Atem aufhört. Es geschieht lediglich abermals. Mit dem Knackpunkt, diesmal nicht wirklich zu wissen, wohin nach so vielen Geschichten und Reisen diese erste ganz ohne Körper geht. Dass weitgehend unklar ist, worum es sich dann dreht.
Und davor sollen wir Angst haben?, denkt sie und zieht sich ihre kleine Tochter auf den Schoß.
Da sitzen sie jetzt, ein Riesenkörper und ein kleiner, und haben keine.